Siehe, ich will über euch vom Hause Israel, spricht der HErr, ein Volk von ferne bringen, ein mächtiges Volk, dessen Sprache du nicht verstehst, und kannst nicht vernehmen, was sie reden.
Jer 5,15
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Gedankenexperiment
Jeremia kündigt im Namen Gottes die Vernichtung an. Hier der Vers im Kontext, in der Übersetzung von 1984:
Siehe, ich will über euch vom Hause Israel ein Volk von ferne her bringen, spricht der HERR, ein Volk von unerschöpflicher Kraft, ein uraltes Volk, ein Volk, dessen Sprache du nicht verstehst, und was sie reden, kannst du nicht vernehmen. Seine Köcher sind wie offene Gräber; es sind lauter Helden. Sie werden deine Ernte und dein Brot verzehren, sie werden deine Söhne und Töchter fressen, sie werden deine Schafe und Rinder verschlingen, sie werden deine Weinstöcke und Feigenbäume verzehren; deine festen Städte, auf die du dich verlässt, werden sie mit dem Schwert einnehmen.
Gott verlässt sein Volk. Nicht ganz, ein Rest des Landes und der Menschen sollen bleiben, damit ein neuer Anfang möglich wird. Jeremia spricht diese Worte irgendwann in der Zeit zwischen den Jahren 625 v. Chr, dem ungefähren Datum seiner Berufung als Prophet, und 597 v.Chr, der ersten Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar. Es folgt eine zweite Eroberung, die dem Staat Juda ein Ende bereitet und die Deportation großer Teile der Bevölkerung nach sich zieht.
Der Vers klingt für uns dunkel, aber damals war er Klartext. Gerade war Babylon neu entstanden, wie eine Supernova. Assyrien hatte sich die große alte Stadt vor langer Zeit einverleibt, aber die Geschichte, die Kultur, die Sprache und die ethnische Identität der Babylonier waren wachgeblieben. Als die Despotie schwach wurde, stand Babylon auf und dehnte sich mächtig aus, auf den Trümmern des assyrischen Großreichs und weit darüber hinaus. Als Jeremia schrieb, versuchten die Könige Judas noch, durch Taktieren und wechselnden Allianzen sich Vorteile zu verschaffen und ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Ein Volk von unerschöpflicher Kraft, ein uraltes Volk, dessen Sprache du nicht verstehst, und was sie reden, kannst du nicht vernehmen... Im Exil würden die Judäer Gelegenheit haben, die Sprache der Eroberer zu lernen…
Warum gibt Gott sein Volk preis? Jeremia spricht von der Gleichgültigkeit gegenüber Gott, der Abkehr von seinem Gesetz, der Hinwendung zu falschen Göttern und von Unwahrhaftigkeit, Lüge und Eigennutz auf Seiten der Elite.
So weit die Eisenzeit und der Orient.
Ein Gedankenexperiment: Wenn der Vers morgen über dem weihnachtlichen Winterhimmel Frankfurts stünde, in Feuerschrift, und wenn dann klar würde, dass es sich nicht um eine Lasershow handelte? Könnten auch wir Klartext verstehen, in unserer Zeit?
Jeder selbst kann sich das fragen. Was die Drohung betrifft, so fällt mir Rußland ein, oder besser noch, China — ein Volk von unerschöpflicher Kraft, ein uraltes Volk, dessen Sprache du nicht verstehst. Und der Hintergrund, das Warum? Die Stadt und das Land säkularisieren, entchristianisieren sich unfassbar schnell. Wir dienen keinen klassischen Götzen, nein, aber wir vergötzen das Ich. Liebe Gott und liebe Deinen Nächsten wie dich selbst, liebe deine Familie, liebe auch deinen Feind, so lautet das Gesetz Gottes. Sei mit deinem Ich im Zusammenhang aller mit allen…!
Ich sehe meine eigene Schicht, ein Genrebild. Wir schauen auf uns und optimieren alles. Work-Life-Balance, Urlaub, Karriere, Vermögensaufbau, Sicherheit im Alter und ein Eigenheim. Achtsamkeit als Ersatzreligion, Geschlechtsidentitäten. Gesundheit und Fitness. Sünde heute — das ist, einen Vorteil zu verpassen. Kinder sind dem allen mehr als abträglich, deshalb haben wir keine. Im Alter werden Zuwanderer für uns sorgen, und deren Kinder, so glauben wir. Unsere Welt könnte riesig groß sein, und sie ist doch sehr klein. Der Grund, auf dem wir stehen, schwindet. Nach uns die Sintflut. Wir sind nicht offen bösartig, aber wenn es irgend geht, blenden wir die Welt einfach aus. Das Los soll entscheiden, wer gemustert wird. Unsere Seelen sind in sozialen Netzen gefangen.
Das könnte schon passen. Die Erzählungen der Bibel umfassen einen Zeitraum von rund zweitausend Jahren, und ebenso lang ist es her, dass die Sammlung abgeschlossen wurde. Aber irgendwie kann alles gleichzeitig zu uns sprechen, Segen und auch Fluch…
Die Adventszeit ist Vorbereitung auf eine Endzeit. Nichts bleibt, wie es ist. Ich wünsche uns einen frohen dritten Advent. Das Beitragsbild oben stammt von meiner Tochter Mathilde. Unsere Woche sei gesegnet,
Ulf von Kalckreuth
